von Ursula Unterkofler
Der Frage nach Bedarfen wohnungsloser Frauen mit schweren chronischen psychischen Erkrankungen in München gingen Studierende des Studiengangs Soziale Arbeit an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München nach. Das Lehr- und Praxisforschungsprojekt fand in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Wohnungsnotfallhilfe München und Oberbayern/Koordination Wohnungslosenhilfe Südbayern statt.
Initiierung des Projekts aus der Praxis
Das Projekt wurde aus der Praxis der Wohnungsnotfallhilfe initiiert, da dort eine konkrete Problemstellung beobachtet und artikuliert wurde: In der täglichen Arbeit in niedrigschwelligen Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe wurde eine Versorgungslücke bei der Unterbringung und psychosozialen und psychiatrischen Versorgung von wohnungslosen Frauen mit schweren chronischen psychischen Erkrankungen in München festgestellt. Im Münchner Arbeitskreis der Arbeitsgemeinschaft Wohnungsnotfallhilfe München und Oberbayern „Hilfe für Frauen in Not“ wurde dies thematisiert und angeregt, den Bedarfen dieser relativ kleinen, aber deutlich unterversorgten Zielgruppe nachzugehen.
Mit dem Anliegen, eine empirische Basis für die Entwicklung von Angeboten für die Frauen zu generieren, wendete sich Stephanie Watschöder, Fachreferentin in der Koordination Wohnungslosenhilfe Südbayern, im Namen der im Arbeitskreis vertretenen Einrichtungen an mich, Ursula Unterkofler, Professorin für Methoden der empirischen Sozialforschung und Evaluation an der Fakultät. In Zusammenarbeit mit Akteurinnen der Wohnungsnotfallhilfe erarbeitete ich daraufhin ein Konzept für ein Lehrforschungsprojekt in Kooperation mit der Praxis der Wohnungsnotfallhilfe. Es fand im Wintersemester 2021/22 statt und war im Studiengang Soziale Arbeit im Modul „Forschungsprojekt“ verortet. Ziel des Forschungsprojekts war die Beschreibung der aktuellen Situation und des bestehenden Bedarfs in München für die Unterbringung von Frauen, die obdachlos bzw. wohnungslos sind und von schweren chronischen psychischen Erkrankungen betroffen sind, und die auch aus sehr niedrigschwelligen Übernachtungsangeboten immer wieder herausfallen und v.a. nicht längerfristig untergebracht und versorgt sind.
Umsetzung als qualitative Studie
Ich begleitete die Studierenden in enger Kooperation mit unterschiedlichen Praxisstellen der niedrigschwelligen Wohnungsnotfallhilfe bei der Datenerhebung. Beteiligt waren die Bahnhofsmission München (Evangelisches Hilfswerk München und INVIA e.V.), das Frauenobdach KARLA 51 (Evangelisches Hilfswerk München), die Offene Hilfe/Sonderberatungsdienst (Sozialdienst Katholischer Frauen München), der Tagesaufenthalt Otto&Rosi (Arbeiterwohlfahrt München) und die Teestube „komm“ – Streetwork (Evangelisches Hilfswerk München). Die Studierenden befragten betroffene Frauen mit Leitfadeninterviews und ausgewählte Fachkräfte der Sozialen Arbeit und Psychiatrie in Gruppendiskussionen. Die Daten wurden inhaltsanalytisch ausgewertet.
Ergebnisse: Barrieren der Nutzung von Angeboten
Insgesamt zeigt sich, dass aus Sicht der befragten Frauen vielfältige Barrieren bestehen, vorhandene Angebote zu nutzen. Zentrale Beispiele dafür sind:
- Die Frauen benötigen einen Raum, in den sie sich von allen sozialen Anforderungen (auch von Mitbewohner:innen und Fachkräften) zurückziehen können. Doppel- oder Mehrbettzimmer sind eine hohe Belastung für sie, die sie nicht eingehen. Einzelzimmer oder eigene Wohneinheiten sind notwendig, damit die Frauen die Nutzung von Angeboten in Erwägung ziehen. Der Wunsch nach einer langfristigen Perspektive der Unterbringung bzw. des Wohnens ist sehr stark.
- Angebote müssen niedrigschwellig zugänglich sein, das bedeutet konkret: Anonymität (auch in Einrichtungen), Unverbindlichkeit (z.B. Reduzierung von Vorgaben zu zeitlichem oder täglichem Erscheinen), flexibler Umgang mit Regeln (oft können die Frauen Regeln auf Grund von Symptomatiken nicht einhalten), sowie gute Erreichbarkeit (auf Grund körperlicher und psychischer Einschränkungen).
- Die Frauen erleben sich hinsichtlich des Systems der Existenzsicherung und bürokratischer Bewilligungsverfahren eingeschränkt handlungsfähig. Sie sind nicht bereit, Informationen preiszugeben oder Unterschriften zu leisten, auch auf Grund erschütterten Vertrauens in Institutionen und Behörden. Dies führt zu mangelnder Existenzsicherung und Nicht-Beantragung von Leistungen.
- Vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Stigmatisierungserfahrungen im Kontext von Öffentlichkeit, Ämtern und Behörden, Gesundheitssystem, etc. wehren sich die Frauen gegen die Zuschreibung, „psychisch krank“ zu sein und sind sehr zurückhaltend in der Aufnahme von Kontakt zu Fachkräften. Prozesse zur Aufnahme von Arbeitsbeziehungen sind vor diesem Hintergrund äußerst zeitaufwendig, die Frauen wollen nicht angesprochen werden, sondern wollen Kontakt – wenn überhaupt – selbstbestimmt aufnehmen.
Die befragten Fachkräfte betonen darüber hinaus, dass Angebote für die Frauen vor Ort multiprofessionell aufgestellt sein müssen, da die Frauen nicht unterschiedliche Einrichtungen der Sozialen Arbeit, Medizin, Psychiatrie, Pflege etc. nutzen. Zentral sehen sie außerdem den Abbau von Bürokratie, etwa den Verzicht von Unterschriften bei Beantragung von Leistungen und die Etablierung von pauschalen Mischfinanzierungen unter Beteiligung aller Kostenträger auf Grundlage der Zuständigkeiten von SGB II, SGB V, SGB IX und SGB XII.
Ausblick
Die Landeshauptstadt München greift die Studienergebnisse auf, um diese bei der Konzipierung von in Planung befindlichen Angeboten der langfristigen Unterbringung für betroffene Frauen zu berücksichtigen (siehe Pressemeldung der Landeshauptstadt München).
Aktuell ist die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes auf Landesebene in Bayern in Bearbeitung. Das BTHG sieht für die Eingliederungshilfe eine Antragserfordernis vor. Vor dem Hintergrund der Studienergebnisse ist dringend darauf zu achten, dass in der Umsetzung Lösungen für Zielgruppen gefunden werden, die Zielgruppen der Eingliederungshilfe sind, deren Einschränkungen bzw. (‚seelische‘) Behinderungen aber bedingen, dass sie (vorerst) keine Anträge stellen. Daran arbeitet aktuell die Arbeitsgemeinschaft Wohnungsnotfallhilfe München und Oberbayern, unter Bezug auf die Ergebnisse dieser Studie, welche sie wie oben genannt mit initiiert hat.
Der Forschungsbericht ist hier zugänglich: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:m347-opus-3870
Hier finden Sie die Pressemeldung der Hochschule München.
Ein Beitrag zur Situation der befragten Frauen wird vsl. am kommenden Samstag, den 9. Juli 2022, auf Bayern 2 in der Radiosendung Bayern 2 am Samstagvormittag ab 09.05 Uhr gesendet.